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Positionen zu einer Stadtraumgeschichte  

Lennep, Kraspütt 2014

Aachen, Hof 2014

Pirna, Schmiedestraße 2014

«There is no quick, easy way to appropriate the past. Walking in an old town center, sketching it and thinking about it, is instructive in a direct way. It is the first and indispensable step. But it will not tell us what really happened until we turn to the archives, the history books, the old maps – until we assemble all the evidence, some of it often contradictory, that will help explain how a particular downtown got the look it now has.»
Kostof, Spiro: The City Shaped. London, 1991, S. 10.

Stadträume überliefern mit ihren archäologischen und architektonischen Schichtungen neben den bildlichen und schriftlichen Quellen die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte einer Stadt. Im Grunde stellen sie sogar die unmittelbarste und zugänglichste historische Quelle dar – nicht nur – aber besonders für den architektonisch und städtebaulich gebildeten Betrachter. Das Nachvollziehen von Raumstrukturen mit ihren Brüchen und Transformationen erlaubt eine schnelle Übersicht über die Entwicklungsphasen einer Stadt, die dann mit Hilfe der anderen Quellen bestätigt und vertieft werden kann. Neben dem Vergleich von Stadträumen einer Stadt untereinander ist aber auch der Vergleich mit den Raumstrukturen anderer Städte unabdingbar, um im Sinne einer architektonischen Stadtraumgeschichte eine Vorstellung von der Lebenswelt verschiedener Regionen und Epochen gewinnen zu können.

Gerade in diesem stadtraumhistorischen Sinne erscheint Kostofs Haltung, die Untersuchung mit dem Stadtraum zwar als unentbehrlichen ersten Schritt in der historischen Auseinandersetzung mit dem Städtebau zu sehen, dann aber die Bedeutung der Arbeit mit Archivmaterial, Geschichtsbüchern und Kartenwerken zum eigentlichen Schlüssel für das Verständnis davon «was wirklich passiert ist» heranzuziehen, allerdings wenig stichhaltig. Ganz im Gegensatz zu der von ihm apostrophierten Validierung durch andere Quellen können wir uns auf bildliche und schriftliche Daten nur dann verlassen, wenn wir die entsprechenden Spuren auch im Stadtraum nachvollziehen und so etwaige Interpretationsvorbehalte gegenüber Bild- und Textquellen auflösen können. Historische urbane Lebenswelten, die uns Texte, Bilder und Karten vermitteln, können somit erst dann als belastbar gelten, wenn sie sich auch im überlieferten Stadtraum manifestieren.

Die hierzu erforderliche Spurensuche ist, und hier muss Kostof Recht gegeben werden, nicht immer ein schneller und einfacher Weg. Vor allem zeitigt die oben beschriebene Beweisumkehr nachgerade eine iterative Untersuchung, welche einen häufigen Wechsel zwischen den verschiedenen Quellen und die ständige Rückkehr (revisit) zum Stadtraum als Hauptquelle erfordert. An die Stelle einer kursorischen Wahrnehmung eines Ortes während des Erlaufens, Skizzierens und Nachdenkens, die danach in der Studierstube gemeinsam mit den anderen Quellen «zusammengefügt» werden, muss in einer Stadtraumgeschichte also eine profunde Untersuchung treten, die sich nicht nur mit den vielfältigen Oberflächen des zu untersuchenden Ortes beschäftigt, sondern zuvorderst mit seiner räumlichen Konstruktion und Konstitution. Hierbei umfasst die Konstruktion zunächst die physische Erschaffung und historische Schichtung am Ort durch den Menschen, und die Konstitution die synchrone und diachrone Wechselwirkung der verschiedenen Strukturen im Raum mit den Menschen.

Soweit – als Postulat – die primäre Aufgabe eines Forschungsfeldes Stadtraumgeschichte aus architektonischer-städtebaulicher Sicht. Doch worin besteht nun innerhalb dieser Disziplin der Unterschied zu den anderen, seit langem etablierten historischen Fächern? Zunächst ist es sicher der Gegenstand der Untersuchung. Hat sich der städtische Raum spätestens mit dem «spatial turn» seit Ende der 1980er Jahre in der Philosophie und Geographie, wie auch in den Sozial- und Kulturwissenschaften (und damit mittelbar und vor allem anwendungsbezogen in der Stadtplanung) als eigenständiges Forschungsfeld etabliert,[1] so spielt er in der Baugeschichte/historischen Bauforschung und der Architekturgeschichte häufig noch eine Nebenrolle.

In der Baugeschichte, die vom «Bauwerk als Quelle» ausgeht, ergibt sich der Stadtraum vornehmlich als ein Raum dazwischen; das heißt, dass das Gebaute in seinen drei Dimensionen ein Unbebautes umschließt oder besser: übrig lässt. Folgerichtig beschäftigen sich Bauhistoriker auch nicht mit der Historizität des Raumes selbst; die Zeit als vierte Dimension wird vielmehr über den Prozess des Bauens und die Nutzung des Gebauten untersucht, also über die Historizität der Bauwerke. Gleichwohl tritt neben die Analyse der Baufugen, Materialwechsel und Gebrauchsspuren dann auch die Archivarbeit die Bauherrschaft und die Baumeister betreffend. In der Architekturgeschichte findet hingegen häufiger auch eine Auseinandersetzung mit dem architektonischen Raum statt; gemäß ihrer kunstwissenschaftlichen Tradition wird seine Ästhetik und Konzeption untersucht, wobei über eine Beschäftigung mit den Produzenten und Rezipienten gleichermaßen sozio-kulturelle Aspekte einbezogen werden. Allerdings wird der faktische Raum in der Regel in seiner zweidimensionalen Projektion bearbeitet; d.h. dass er in Perspektiven, Aufrissen oder Grundrissen – selten Axonometrien – oder aber durch Beschreibungen zu einem Raum als Bild abstrahiert wird. Er rückt damit zwar in den Fokus der Betrachtung, jedoch macht sich die Historizität hier nicht am Raum selbst, sondern vielmehr an den von ihm geprägten Bildern und Beschreibungen fest.

Für eine Stadtraumgeschichte ist hingegen das urbane Raumgefüge an sich als Quelle verbindlich und muss als solche unmittelbar und integral betrachtet werden. Das heißt, dass der Stadtraum nicht einfach nur als Summe seiner physischen Komponenten untersucht wird – was bedeuten würde, dass man ihn in althergebrachter Weise lediglich als einen komplexeren Untersuchungsgegenstand begreift, einer Collage nach Rowe/Koetter, die es zu dekomponieren gilt.[2] Genauso wenig darf man ihn aus stadtraumhistorischer Sicht einfach nur als Container sozio-kultureller Relationen betrachten, als «Bühne menschlichen Dramas» wie Mumford ihn beschrieb,[3] in dem der Stadtraum gegebenenfalls die Aufgabe eines weiteren Akteurs übernehmen darf.[4] Folglich ist in diesem Zusammenhang auch eine Betrachtung des kognitiven Konstrukts im «Bild der Stadt» der verkehrte Weg;[5] dies gilt umso mehr als dass dieses Konstrukt primär über Reize und Zeichen wirkt,[6] welche zunehmend gar keine städtebaulichen oder architektonischen mehr sind, sondern plakative und häufig bereits sogar virtuelle.

Im Sinne der Raumwissenschaften arbeitet eine Stadtraumgeschichte jedoch nicht nur mit dem Stadtraum als Untersuchungsgegenstand und Hauptquelle, sondern begegnet ihm vor allem mit räumlichen Analysekategorien. Die Grundlagen für diese Kategorien gehen auch auf Autoren des 19. Jh. wie Sitte und Schmarsow zurück, für die die körperliche Wahrnehmung des städtischen Raums eine wesentliche Voraussetzung der anthropogenen Gestaltung der Lebensumwelt war – Schmarsow beschreibt die «architektonische Schöpfung» grundsätzlich und ausdrücklich als ein räumliches Unterfangen;[7] die Architektur ist «Raumgestalterin» und nicht lediglich Bekleidungskünstlerin im Semperschen Sinne oder Baukonstrukteurin wie Hartmann es beschreibt.[8] In seinem Aufsatz über «Langweilige und kurzweilige Straßen» aus dem Jahr 1893 erlaubt der Aachener Architekturprofessor Henrici einen eindrücklichen Blick auf die Art und Weise, wie er und seine Zeitgenossen den Städtebau wahrnahmen und hofften, dies für die Disziplin verpflichtend machen zu können:[9] Die Interaktion des Individuums mit dem künstlerisch gestalteten Raum. Eine geschichtliche Tiefe dieser Interaktion beschreibt Sitte in seinem Buch «Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen»,[10] in dem die Herleitung der künstlerischen Gestaltung des Stadtraums auf der Betrachtung mittelalterlicher Plätze in Italien und Deutschland beruht – im Grunde ist dies bereits eine erste Stadtraumgeschichte.

Es wäre allerdings zu kurz gegriffen, eine historische Auseinandersetzung mit dem Stadtraum nur aufgrund einer künstlerischen Gestaltung zu führen, für die von Sitte und Henrici engere Vorgaben gemacht wurden. Schmarsow bietet hier sicherlich den weitreichenderen Zugang über sein Verdikt, dass jegliche Bautätigkeit Architektur sei – und damit letztlich auch Raumkunst. Diese Anschauung unterstützt den Ansatz der Stadtraumgeschichte, nicht nur den zeitgenössischen Stadtraum, sondern auch seine historischen Schichtungen als gestalterische Parameter aufzufassen und damit alle Elemente der Konstruktion des Stadtraums für die Untersuchung seiner Konstitution heranzuziehen. Als Beispiel mag hier, neben der oft zitierten Piazza Navona in Rom, das Gebiet um die römische Via di Grotta Pinta dienen. Hier lässt sich in einem scheinbar unscheinbaren Wohnviertel bis heute das antike Pompeius-Theater ablesen, obwohl es bereits im Mittelalter größtenteils abgetragen wurde (anders als das benachbarte Marcellus-Theater, in das mittelalterliche Stadthäuser eingebaut wurden). Neben archäologischen Befunden zeugen vor allem die Struktur und Morphologie des Viertels von der ursprünglichen monumentalen Anlage und wirken sich so unmittelbar im heutigen Stadtraum aus. Neben einer solchen horizontalen historischen Schichtung, die transformativ oder quasi epigenetisch wirkt, finden wir häufig auch vertikale Schichtungen, beispielsweise über eine additive bzw. substitutive Entwicklung des städtischen Raumgefüges. Eine Sonderrolle spielen sicherlich Stadträume, die sich seit ihrem Bau in ihrem Originalbestand erhalten haben – also demnach persistent sind.

Offensichtlich ist eine Untersuchung der Konstruktion des Stadtraums ohne bau- und architekturhistorisches Wissen kaum möglich. Die Nutzung der dort erprobten Methoden, z.B. die Analyse der Bauphasen oder die Abstraktion des Stadtraums in «Nolli-Plänen»,[11] ist für die räumliche Betrachtung unabdingbar. Gerade für den Bereich der Konstitution wird dann allerdings eine Auseinandersetzung mit den sozio-kulturellen Komponenten und Schichten im Raum wesentlich, über die seine immer wieder neue Konzeption und ihre Rezeption erst nachvollziehbar werden. Wie eingangs postuliert, gehört hier auch der Vergleich mit anderen Raumgefügen dazu – ggf. in anderen Städten. Hilfreich wird hier, neben einer allgemeinen Topologie, auch eine Typologie von Räumen sein, welche die verschiedenen Loci auf wiederkehrende typische Gestaltungslösungen hin untersucht. Dies kann quasi analog zur Kategorisierung von Bollnow geschehen,[12] der die gesamte Räumlichkeit des menschlichen Lebens untersuchte und somit Aufschluss über die gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und nicht zuletzt künstlerischen Vorstellungen gab, die in verschiedenen Zeitschnitten die Raumgestaltung geprägt haben.

Somit wirken die historischen Lebenswelten vor allem über den Stadtraum, seine Rezeption und Appropriation bis in die Gegenwart. Gleichermaßen prägen sie dadurch auch unsere heutigen formalen wie funktionalen Ansprüche an die uns umgebende städtische Umwelt. Eine Auseinandersetzung mit dem Stadtraum muss daher auch immer das Ephemere, das heißt, die vorübergehende Nutzung aber auch vergängliche Gestaltungen der städtischen Räume einschließen, da hierdurch Stellungnahmen zur Geschichte einerseits und Ansprüche an die Gegenwart und Zukunft andererseits abgebildet sind. Bleibt abschließend die Frage, warum ein weiteres Forschungsfeld, das sich mit der Stadtraumgeschichte beschäftigt? Für die wissenschaftlichen Disziplinen Architektur, Städtebau und Stadtplanung gehört eine historische Beschäftigung mit dem Gegenstand der Disziplin wie auch mit ihrer Geschichte unabdingbar zum Kanon des Studiums wie auch der beruflichen Praxis. Die historischen Fächer der Disziplin sorgen für das notwendige Fakten- wie auch Methodenwissen, um sich in unserer oft vermeintlich als ahistorisch betrachteten Gegenwart zurechtfinden zu können. Für Planende und Gestaltende ist eine Stadtraumgeschichte somit mehr als nur das Kennenlernen eines Bauplatzes oder das Erschließen der Stadt als Quelle für eine historische Auseinandersetzung. Es geht vor allem um eine wissenschaftliche und gestalterische Beschäftigung mit dem Raum, die sorgfältig und verantwortungsvoll das städtische Raumgefüge weiterentwickelt; so wie es Generationen von Raumgestaltenden in den vergangenen Jahrhunderten getan haben. Das Spannungsfeld Bauen im Bestand, dass als Synonym für eine Gestaltung von städtischem Raum gelten kann, muss nach den Grundsätzen einer Stadtraumgeschichte somit vom Verbot des Zerstörens herausragender wie auch typischer lokaler Überlieferungen hin zum Gebot der qualitätvollen Weiterentwicklung des Raumes reichen.
 

[1] vgl. z.B. Bachmann-Medick, Doris: Spatial Turn. In: Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Hamburg, 2009 (3., neu bearbeitete Auflage);
Döring, Jörg & Tristan Thielmann (Hrsg.): Spatial Turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld, 2008 <<<

[2] Rowe, Colin & Fred Koetter: Collage city. Cambridge MA, 1978

[3] Mumford, Lewis: What is a city? In: Architectural Record, 82 (November 1937), s.p..

[4] vgl. hier: Löw, Martina: Raumsoziologie. Frankfurt am Main, 2001

[5] Lynch, Kevin: Image of the City. Cambridge MA, 1980

[6] Venturi, Robert, Denise Scott Brown & Steven Izenour: Learning from Las Vegas. Cambridge MA, 1972

[7] Schmarsow, August: Das Wesen der architektonischen Schöpfung. Antrittsvorlesung gehalten in der Aula der K. Universität Leipzig am 8. November 1893. Leipzig, 1894

[8] Semper, Gottfried: Kleine Schriften. Berlin, 1884, S. 294;
Hartmann, Eduard von: Aesthetik. Bd. 2: Die Philosophie des Schönen. Berlin, 1887, S. 461 ff. u. 600;
Hartmann, Eduard von: Gehört die Baukunst zu den freien Künsten? In: Gegenwart, 31 (1887), S. 389-392

[9] Henrici, Karl: Langweilige und kurzweilige Straßen. In: Deutsche Bauzeitung 27, Nr. 44, 1893, S. 271–274

[10] Sitte, Camillo: Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen. Wien, 1889 (4. Aufl. 1909)

[11] vgl. A description of ancient Rome containing a short account of the principal buildings, places, &c. noticed in the annexed plan of that city, drawn from an actual survey, by Leonardo Bufalino, in the year 1551; reduced to a smaller scale by J. B. Nolli, in 1748; and now republished: with references to the passages in M. Rollin’s History of the Roman Republic, and M. Crevier’s History of the Roman Emperors, where they are mentioned, printed for John Knapton: and sold by Robert Horsfield in Ludgate-Street. London, 1761

[12] Bollnow, Otto Friedrich: Mensch und Raum. Stuttgart, 1963

 

 


Ley, Karsten: Positionen zu einer Stadtraumgeschichte und Spatium Urbis Genuae. In: Schröder, Uwe et al. (Hrsg.): Strada Nuova. Wasmuth, Tübingen, 2014
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