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Die urbane Matrix. Zu einer Theorie über die Parameter städtischer Form und deren Wechselbeziehungen (abstract)  

Der Parameter Komposition'
mit seinen Kriterien Fabricality am Beispiel Karlsruhe, Figurality am Beispiel der Eixo Monumental in Brasília und Spatiality am Beispiel des Forum Romanum.
Komposition' als einer von drei kreativen Parametern bestimmt demnach die räumliche Ausgestaltung von Städten, die sich an der Stadtstruktur (Urban Fabric), architektonischen Objekten (Urban Figures) oder aber am räumlichen Zusammenspiel unterschiedlicher Architekturen (Urban Space) orientieren kann.
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Die urbane Matrix
als ein dissipatives System konditioniert die neutrale und erratische Energie, die für die Stadtwerdung und -Entwicklung verantwortlich ist, und führt zunächst zu städtebaulichen Motivationen und schließlich zu tatsächlicher urbaner Form.
Sie ist somit ein Erklärungsmodell dafür, warum man verschiedene Städte, trotz ihrer funktionalen und formalen Unterschiedlich-keiten als Stadt begreift.
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Relationale Kartierungen
ermöglichen eine Analyse der einander beeinflussenden Parameter und können so zu Vergleichen verschiedener Siedlungen oder aber verschiedener zeitlicher Zustände führen.
Syntagmatische Kartierungen in mehrwertigen Kontexten erlauben darüber hinaus relative Bewertungen zweier Kurven, paradigmatische Kartierungen hingegen Auswirkungen von wechselnden Werten innerhalb einer Kurve.
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"Die urbane Matrix" versteht sich als eine Annäherung an Stadt als dem 'größten Artefakt der Kultur und Geografie, Produkt eines komplexen Spiels verschiedenster Kräfte' (Vance Jr 1990: 4). In der Kürze dieser Betrachtungsweise ist nicht nur der Forschungsgegenstand selbst umrissen, sondern auch bereits die Schwierigkeit erfasst, die in seiner Bearbeitung liegt: Nach welchen Kriterien nennen wir beispielsweise Rothenburg, Ur und Mexico City gleichermaßen Stadt, obwohl sie doch zu vollkommen unterschiedlichen Zeiten an ebenso unterschiedlichen Orten entstanden sind (Jansen)? Und was erlaubt es uns, unsere heutigen städtebaulichen Formen als Nachfolger der bronzezeitlichen Stadtanlagen zu begreifen, die nach dem derzeitigen Kenntnisstand den Beginn von Stadt darstellen?

Wegen der Vielfalt und seines beständigen Wandels ist dieses 'Artefakt' Stadt schwer zu fassen, weshalb in generellen Anschauungen bisher zumeist funktionale Aspekte beachtet wurden, formale Aspekte hingegen der Betrachtung historisch abgeschlossener Vorgänge vorbehalten blieben. Dennoch erkennen wir in allen Beschäftigungen mit Stadt auch den Gedanken eines formalen Kontinuums wieder, der sich allein aus funktionalen Aspekten heraus nicht erklären lässt. Ziel dieser Arbeit ist es daher, Grundlagen für dieses formale Kontinuum Stadt zu beschreiben. Hierzu werden Faktoren und systemische Zusammenhänge erarbeitet, die städtebauliche Formen über ihre zeitlich-räumliche Gebundenheit hinaus grundsätzlich bestimmen, und somit auch die Form betreffend einen einheitlichen Begriff Stadt begründen können.

Den Ansatzpunkt für diesen Beitrag zu einer städtebaulichen Grundlagenforschung bilden zwei Überlegungen, die beide nicht aus dieser Disziplin selbst stammen:
Die Erste umfasst eine phänomenologische Betrachtung, die eine Unterscheidung zwischen faktischen Städten und dem theoretischen Begriff Stadt vornimmt, welcher eine Idealvorstellung davon beinhaltet, wie eine Stadt sein sollte. Diese Betrachtung, die auf den Kunsthistoriker Giulio Argan zurückgeht, bildet die Grundlage für die Untersuchung eines Abstraktums Urbane Form, das die formalen Aspekte aus ihrer zeitlich-räumlichen Bindung löst und in der Folge eine Bestimmung von allgemeinen Charakteristika zulässt.
Die Zweite stellt eine systemische Betrachtung dar, die Wechselbeziehungen zwischen verschiedenen bestimmbaren Faktoren impliziert, aus denen unbestimmbar Städte entstehen. Diese Betrachtung, die auf den Soziologen Niklas Luhmann zurückgeht, erlaubt es uns, sowohl die Vielfalt als auch die Unvorhersagbarkeit tatsächlicher städtebaulicher Formen aufgrund der Vielfältigkeit der beteiligten Meinungen und Interessen zu erklären, als auch Konditionierungs- und Kontingenzformeln für diese Vorgänge zu untersuchen.

Beide Überlegungen gemeinsam begründen schließlich ein Gedankenmodell, welches sich in der Urbanen Matrix als einem dissipativen, d.h. offenen dynamischen System äußert, in dem verschiedene zeit- und ortsunabhängige Parameter wechselbezüglich für das Entstehen und die Entwicklung von zeit- und ortsgebundenen städtebaulichen Formen verantwortlich sind. Das System und seine Bestandteile selbst bleiben demnach abstrakt, bestimmen aber die konkreten Motivationen der an der Gestaltung Beteiligten und schließlich das faktische formale Ergebnis Stadt. Die vorliegende Arbeit stellt folglich eine theoretisch-normative Beschäftigung dar, die sich mit abstrakten Begriffen anstelle von gebauter Umwelt befasst. Damit verbunden ist auf der einen Seite eine möglichst präzise Festsetzung von Begriffen, die oft Dekontextualisierungen oder auch Neologismen bedingt; und auf der anderen Seite eine Zuhilfenahme von philosophischen wie auch mathematischen Methoden, da der Städtebau selbst kein entsprechendes Instrumentarium anbietet. Besonders zu erwähnen ist hier die formale Begriffsanalyse, die von Bernhard Ganter und Rudolf Wille entwickelt wurde, sowie Gottlob Freges Überlegungen zur Semantik.

Die Schlüsselhypothese für die vorgeschlagene Herangehensweise ist dabei eine Unterscheidung zwischen Qualität und Quantität, die in der formalen Begriffsanalyse durch die Gegenüberstellung von Attributen und Objekten und in der Semantik durch die Vorstellung von Intension und Extension zum Ausdruck kommt. Hierbei verweisen städtebauliche Quantitäten auf eine zeitlich-räumliche Gebundenheit, wohingegen die Qualitäten eine Ableitung allgemeiner Aspekte zulassen. Diese werden anhand einer idealisierten Stadtgründung untersucht und schließlich zu Parametern städtebaulicher Form zusammengefasst. So ist beispielsweise davon auszugehen, dass in der Regel nur ein sicherer und gesunder Ort für die Stadtgründung attraktiv ist; Sicherheit und Gesundheit werden in der Folge zudem Kriterien für den Bau und die Entwicklung der Stadt selbst, die zusammenfassend auf einen Parameter Attraktivität verweisen.

Die Kernaussage der Arbeit bezieht sich hingegen auf die Existenz eines konditionierenden Systems, dessen Faktoren wissenschaftlich bestimmt werden können, wenngleich mangels einer Eineindeutigkeit (Bijektivität) zwischen abstrakten Parametern und faktischen Formen zwar eine retrospektive Erklärung möglich, eine prospektive Vorhersagbarkeit allerdings unmöglich ist; vergleichbar Heinz von Foersters "Nicht-trivialer Maschine" (Foerster 1985: 62 ff.). So erklärt sich die Attraktivität einer Stadt gegebenenfalls durch ihre sichere und gesunde Lage, aber nicht alle attraktiven Städte müssen notwendigerweise an besonders sicheren und gesunden Orten liegen, noch sind solche Orte der Garant für Attraktivität und prosperierende Entwicklung.

Ingesamt gliedert sich die Arbeit in vier Hauptteile:

1. Eine einleitende Betrachtung der westlichen Städtebauentwicklung seit der Industrialisierung, die mit dem Entstehen des Städtebaus als wissenschaftlicher Disziplin gleichzeitig den Ausgangspunkt und das Betätigungsfeld für eine städtebauliche Grundlagenforschung bildet – wobei mangels eines fest umrissenen Forschungsfeldes keine klassische Einleitung erfolgt, sondern nach einer zusammenfassenden Ideen- und Rezeptionsgeschichte eine neue Herangehensweise vorgeschlagen und in ihrer Problematik erläutert wird;

2. Die Entwicklung eines Gedankenmodells, das konzeptuell die Ursachen städtebaulicher Entwicklung beschreibt und über eine genauere Darlegung seiner phänomenologisch-systemischen Grundlagen eine Herleitung von abstrakten Faktoren erlaubt – wobei diese Vorgehensweise die Basis für die Ableitung von qualitativen Parameter städtischer Form bildet;

3. Einen Katalog, der qualitative Parameter und ihre verschiedenen Kriterien definiert – sowie Überlegungen, die die weitere Bildung von Sekundärfaktoren innerhalb dieses parametralen Rahmens ermöglichen; und

4. Einen Ausblick auf die Urbane Matrix als ein zusammenfassendes System, das die Entstehung und Entwicklung städtischer Form konditioniert – wobei zunächst die Parameter mit den zuvor eingeführten Begriffen abgeglichen, dann die Wechselbeziehungen der verschiedenen Parameter untereinander besprochen und schließlich erste Überlegungen für mögliche praktische Anwendungen vorgestellt werden.

Wie im Untertitel dieser Arbeit festgehalten, stellt das vorgeschlagene Gedankenmodell trotz seiner angestrebten konzeptuellen Schlüssigkeit keine abgeschlossene Theorie dar; im Gegenteil sollen die phänomenologischen und systemischen Überlegungen weitere Theoriebildungen in einer städtebaulichen Grundlagenforschung anregen — nicht zuletzt, um vor dem Hintergrund zunehmend beschleunigender Städtebauprozesse zu einer gemeinsamen Wahrnehmung vom ureigenen Forschungs- und Arbeitsfeld Stadt zu kommen (Seifert 2003: 11). Viele, der in der Arbeit behandelten Themen gehen auf Erfahrungen zurück, die der Autor während seiner Tätigkeit am Lehr- und Forschungsgebiet Stadtbaugeschichte sammeln konnte; und viele Gedankenanstöße stammen aus den Diskussionen mit Michael Jansen, die immer wieder die im Kern unlösbare Frage behandelten 'Was ist Stadt?'.

 

Argan, Giulio C.: Storia dell'arte come storia della città, Riuniti, Roma, 1983
(1989, Kunstgeschichte als Stadtgeschichte, Fink, München).

Foerster, Heinz v.: Entdecken oder Erfinden. Wie läßt sich das Verstehen verstehen? In: Gumin, Heinz & Heinrich Meier (eds.): Einführung in den Konstruktivismus, pg. 41-88, Oldenbourg, München, 1985 (1992, Piper, München).

Frege, Gottlob: Über Sinn und Bedeutung. In: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, vol 100, pg. 25-50, 1892 (Patzig, Günther: Gottlob Frege. Funktion, Begriff, Bedeutung, Fünf logische Studien, pg. 40-65, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 1962/75; Frege, Gottlob: Sense and Reference. In: The Philosophical Review, vol. 57, pg. 207-230, 1948).

Ganter, Bernhard & Rudolf Wille: Formale Begriffsanalyse. Mathematische Grundlagen, Springer, Berlin (1999, Formal Concept Analysis. Mathematical Foundations, Springer, Berlin / New York)

Luhmann, Niklas: Einführung in die Systemtheorie, Carl-Auer, Heidelberg, 1992.

Seifert, Jörg: Urban Research: Biopsy and Density, VDG, Weimar, 2003.

Vance Jr, James E.: The Continuing City. Urban Morphology in Western Civilization, John Hopkins, Baltimore, 1990.
 

 

 


Ley, Karsten: The Urban Matrix. Towards a Theory on the Parameters of Urban Form and their Interrelation. FdR, Aachen, 2009
ISBN 978-3-936971-20-0 / 978-3-936971-25-5; ISSN 1436-7904