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Raum, Zeit, Funktion : die Dimensionen der Achse im Städtebau (abstract)  

Räumliche Dimensionen
Die Strukturachse bezieht die Umgebung auf sich,
die Gestaltachse verkörpert ein Abhängigkeitsverhältnis von zwei Punkten.
[Abb. 68]

Zeitliche Dimensionen
Die vorzeitige Achse: Auf einem vorbestimmten Raster entstehen
die Straßen als Achsen.
Die gleichzeitige Achse: Aus einer bestehenden städtischen Struktur heraus entwickelt sich eine Achse.
Die nachzeitige Achse: In eine bestehende, zumeist ungeordnete städtische Struktur wird eine Achse eingebrochen.
[Abb. 70]

"Man spricht von einer Linie oder einem Strich, von einem Strahl oder einer Kraft, von einem Motiv oder einem Symbol und begreift die Achse auch als solche, ohne daß zuvor eine klare Definition gegeben oder auch nur versucht worden wäre" schreibt Wilhelm Rave in seiner Abhandlung über "Die Achse in der Baukunst" (Rave 1929: 6) und wartet, obwohl also beinahe jeder eine Vorstellung von dem hat, was eine Achse ist, mit einer Vielzahl von wissenswerten Unterscheidungen und Definitionen für die architektonische Achse auf.

Wenn also die verschiedenen Bedeutungen der Achse landläufig sind und es schon eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Achse in der Baukunst gibt, warum noch eine weitere Beschäftigung mit der Achse? Tatsächlich ist die Achse aber nicht nur ein architektonisches, sondern auch ein bedeutendes städtebauliches Element, welches allerdings nur peripher Beachtung findet. Es gibt weder eine allgemeine Beschäftigung noch, und das ist umso verwunderlicher, Auseinandersetzungen mit Einzelbeispielen, in denen die Bedeutung als städtebauliche Achse gewürdigt wird.

Und doch, kein planerisches Element und keine städtebauliche Figur wurde durch die Zeit hindurch so oft verwandt wie die Achse. Spätestens mit der 'Erfindung' der Zentralperspektive in der Renaissance gehört sie zum grundlegenden Repertoire abendländischer Stadtbaukunst; wir kennen sie heute aus Brasília, Paris, Washington. Ebenfalls keine städtebauliche Figur geriet allerdings auch derart in Verruf; so erscheint es plausibel, dass wegen der nationalsozialistischen Planung der großen Nord–Süd–Achse das figürliche Element der Achse bei den Hauptstadtplanungen in Berlin am Ende des 20. Jahrhunderts bewusst vermieden wurde und man schließlich auf die metaphorische Figur des Bandes verfiel (vgl. Zwoch 1993: 118). Jedoch bestehen auch andernorts Skrupel, Achsen zu planen, wo sie sinnfällig wären. Man verschmäht sie als unzeitgemäß oder zu gewaltig.

Eine kategorische Ablehnung eines bestimmten Entwurfselementes, vor allem wenn es sich durch die Zeiten hindurch als probat erwiesen hat, erscheint allerdings verfehlt. Daher muss ein Bewusstsein über das Wesen der städtebaulichen Achse geschaffen werden, das die derzeitigen Vorbehalte und das Unverständnis auflöst. Ebenso soll einer Entwurfshaltung entgegenwirkt werden, die für sich in Anspruch nimmt, das Entwurfsgeschäft zu beherrschen, obwohl ihr die verschiedenen architektonischen und städtebaulichen Formen, also grundlegendes Handwerkszeug, unbekannt sind. Die wissenschaftliche Behandlung der Achse soll also auch ein Beitrag zur Vertiefung der städtebaulichen Entwurfslehre sein (vgl. Rave 1929: 5; Steenbergen et al. 1996: 9f.).

Dazu muss zunächst, und das ist die eigentliche Aufgabe dieser Arbeit, eine Terminologie geschaffen werden, mit deren Hilfe wir uns über die Achse verständigen können. Was ist die Achse überhaupt, was für verschiedene Arten gibt es, wie entstehen sie und was für Funktionen haben sie? Der Hauptteil der Arbeit gliedert sich so in drei Teile. Zunächst soll das Wesen der Achse allgemein dargestellt werden; in diesen Grundlagen wird die Achse an sich besprochen, ohne dass sie notwendigerweise baulich ist. In einem zweiten Teil schließt sich eine Beschäftigung mit den architektonisch–städtebaulichen Gesichtspunkten an; hier erfolgt eine Beschreibung der städtebaulichen Achse, angefangen bei der Unterscheidung zwischen Gliederungselement und Wegraum bis hin zur tatsächliche Gestaltung der Achse. Im dritten Teil werden dann die im allgemeinen und städtebaulichen Teil gewonnenen Erkenntnisse zusammengefasst und schließlich die Dimensionen der Achse im Städtebau vorgestellt: Raum, Zeit und Funktion.

 

Rave, Wilhelm: Die Achse in der Baukunst. TH Berlin (Diss.), 1929.

Steenbergen, Clemens und Wouter Reh: Architecture and Landscape. The Design Experiment of the Great European Gardens and Landscapes. Prestel, München /
New York
, 1996.

Zwoch, Felix: Hauptstadt Berlin. Parlamentsviertel im Spreebogen. Internationaler Städtebaulicher Ideenwettbewerb 1993. Birkhäuser, Basel / Berlin / Boston, 1993.
 
 

 


Ley, Karsten: Raum, Zeit, Funktion. Die Dimensionen der Achse im Städtebau.
FdR, Aachen, 2005
ISBN 3-936971-08-0; ISSN 1437-1774